Liebe Olga,

häufig beschleicht mich das Gefühl, dass die Welt Kopf steht, der Rechtsdruck nimmt spürbar zu, sei es in Israel, in den skandinavischen Ländern, Spanien oder hierzulande. Für die meisten Menschen scheint dies normal, diesbezüglich scheinen sie sorgenfrei zu sein. Eigentlich müssten wir uns viel stärker dagegenstemmen. Du merkst, ich bin sehr besorgt. War das in den 1930er ähnlich? Hatten etwa nur wenige ein mulmiges Gefühl gehabt – ich denke beispielsweise an Kurt Tucholsky (09.01.1890 – 21.12.1935) – als die Nationalsozialisten immer stärker wurden?
All die Fragen kommen nicht von Ungefähr, der Hintergrund der Designerkarte der „Fantastischen Pflanze“ bildet ein Ausschnitt aus dem Bild „Süßlich“ (1932) von Wassily Kandinsky (16.12.1866 – 13.12.1944). Hatte er im Jahr 1932 die herannahende Katastrophe geahnt? Oder lebte er in Dessau mit seinen Kollegen im Rahmen vom Bauhaus unbeschwert, abgeschirmt vom Alltagsgeschehen? Wenn ich den Hintergrund der Karte betrachte, habe ich den Eindruck, als hätte er sich in die Natur zurückgezogen, die Farben erinnern mich an blasse Blätter, die zu viel Sonne abbekommen haben, vertrocknet sind. Variiert hat er offenbar mit helleren und dunkleren Nuancen, mehr noch, stellenweise erscheint es mir, so als hätte er mit dem Pinsel lauter Punkte gemacht. Wirkt es auf Dich ähnlich?
Denkbar wäre aber auch, dass Wassily Kandinsky sich sehr bewusst mit Natur und Abstraktion beschäftigte, um sich an etwas festhalten zu können, um nicht das Gefühl des dahin Schwimmens, fortgerissen zu werden von all dem lauten Getöse der braunen Soße, um nicht verrückt zu werden.
Kann man überhaupt herannahende menschengemachte Katastrophen wie die freiwillige Wahl eines Diktators verhindern? Ich befürchte, dass man es hinauszögern kann, ähnlich wie es in den USA gelaufen ist als der unsägliche Präsident an der Macht war und etliche Menschen sich zusammengetan haben und ihren Unmut laut und deutlich vernehmbar kundtaten, aber werden sie es auch zukünftig verhindern können? Ich befürchte und hoffe zugleich, dass ich mit meiner Einschätzung völlig daneben liege. Nicht nur das Diktatoren ein Händchen für Manipulation haben und etliche reiche Geldgeber um sich scharen können, um dementsprechende Werbekampagnen und ähnliches finanzieren, sondern den meisten ist es schlicht gleichgültig, wer an der Macht sitzt, erst wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, werden einige aufwachen. Da mich dies alles lähmt, zuweilen mich gar versteinert, versuche ich mich an Strohhalmen festzuhalten, ziehe mich zurück in die Natur, in die Literatur, in die Kunst und in die Spiritualität.

Wie bewertest Du die Weltlage?

Sei lieb gegrüßt
Sabeth

> Siehe auch: Honks und die Erpressermail (Brief an Olga)


 

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